Nachtschrecken und Schlafräuber
ZULETZT Aktualisiert: 28. September 2023
Beate Felten-Leidel ist eine erfahrene Träumerin. In unserem Gastbeitrag erzählt sie, wie Alpträume sie jahrelang verfolgt haben. Und wie sie schließlich gelernt hat, mit ihnen umzugehen.
Als Kind hatte ich schreckliche Angst vor dem Zubettgehen. Ich wusste ja, was mich erwartete. Im Dunkeln lauerte das Nachtvolk und in meinen Träumen verfolgten mich „böse Männer“ mit Knüppeln, Messern und anderen Waffen. Sie wollten mir weh tun und mich sogar umbringen. Ich war ständig in Lebensgefahr und hatte keine Ahnung, warum die Horrorgestalten hinter mir her waren. Zu allem Übel konnte ich nicht weg, weil ich bei ihrem Anblick vor Schreck erstarrte. Ich erinnere mich nur an einen Traum, in dem ich fast entkommen wäre. Ich hatte ein Pony entdeckt, das mich hätte forttragen können. Doch als ich es erreichte, wurde es zu Stein, und schon packte mich eine fremde Hand. In diesen Situationen blieb mir nur der „Notausgang“. Ich wusste schon als Kind, dass ich träumte, und konnte mich aus der Gefahr „herausziehen“, „herauswirbeln“ oder notfalls sogar blitzschnell „herauskatapultieren“. Danach war ich wach und kroch schweißgebadet ins Bett meiner Eltern. Sie wussten Bescheid und trösteten mich: „Das war nur ein Traum.“ Fürs Erste war ich gerettet. Doch es drohte bereits die nächste Nacht.
Panikanfall im Bett
In Zeiten mit besonders vielen Alpträumen durfte ich in der „Besucherritze“ schlafen. Dort fühlte ich mich sicher. Bis ich mit sechs zwischen meinen schlafenden Eltern den ersten Panikanfall bekam. Es war grauenhaft. Ich dachte, auf der Stelle sterben zu müssen. Ich war stocksteif, mein Herz raste, aber diesmal war ich wach! Meine Eltern riefen den Hausarzt, der nichts Lebensbedrohliches feststellen konnte. Dass so ein kleines Kind einen „Herz-Angst-Anfall“ bekommen hatte, konnte sich niemand vorstellen. Danach war mir klar: Niemand konnte mir helfen. Mit mir „stimmte etwas nicht“. Nun fürchtete ich auch noch, nachts zu sterben, und versuchte alles, um das Zubettgehen hinauszuzögern. Mama und Oma saßen abwechselnd bei mir, erzählten mir Geschichten oder legten sich zu mir ins Bett, in der Hoffnung, meine Angst zu lindern. Ohne Erfolg. Ich fürchtete mich einzuschlafen, weil sie dann weggehen würden. Mein Bett war ein Ort des Schreckens. Erst wenn es hell wurde, ging es mir besser.
Viele Kinder haben Alpträume, aber meine waren eindeutig „nicht normal“. Meine Eltern waren überfordert. Warum plagten ausgerechnet ihr Kind diese Horrorträume? Selbst der Besuch einer Erziehungsberatungsstelle brachte keinen Erfolg. „Ihr Kind ist extrem fantasievoll und sensibel“, hieß es. „Es nimmt alles zu schwer.“ Meine Mutter ließ fortan die Tür einen Spalt breit offen und das Licht im Flur an. Doch in meinem Körper war ich allein. Kinderpsychologen gab es noch nicht und damals wusste man auch noch nichts von den feinen Antennen hochsensibler Kinder, von „dünnen Grenzen“, delegierten Ängsten und der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Auf mich traf offenbar alles gleichzeitig zu. Meine Fantasie und Kreativität waren überbordend, ich war schüchtern und ängstlich und außerdem „Symptomträgerin“ meiner Familie. Ich spürte die verborgenen Probleme meiner Eltern hautnah und trug unbewusst mit am Kriegstrauma meines Vaters, der von ähnlichen Alpträumen geplagt wurde, wie ich später herausfand. Doch er kannte seine Verfolger. Es waren feindliche Soldaten und Partisanen. Die Todesangst in meinen Träumen gehörte offenbar zu meinem Vater. Sie war eine fremde Angst, was meine Hilflosigkeit noch steigerte. Meine Mutter quälte sich nachts mit Sorgenketten. Tagsüber merkte man den beiden nichts an. „Gestört“ war nur ich. Ich war schon früh eine Vielträumerin, aber leider speicherte ich als Kind nur schlimme Träume ab. Die angenehmen vergaß ich. Das ist heute zum Glück anders.
Kopfkino
Nachtvolk und Schlafräuber blieben lange ein Problem. In Krisenzeiten, bei Stress, vor Prüfungen oder tiefgreifenden Veränderungen schlief ich wie gewohnt erst ein, wenn es hell wurde, und plagte mich mit „schweren Träumen“. Aber ich kannte sie jetzt besser. Mit fünfzehn fing ich an, Träume aufzuschreiben und psychologische Fachliteratur zu lesen, um mich zu verstehen. Am Bett stand ein Glas kaltes Wasser und neben mir schlief meine Katze. Katzenschnurren wirkt auf mich überaus beruhigend. Zudem achtete ich inzwischen auf alle Träume und genoss die meisten wie unterhaltsame nächtliche Kinovorstellungen. Ich lernte meine persönlichen Lieblingsmotive kennen und entwickelte einen „direkten Draht“ zu den Träumen. Sie antworteten mir, wenn ich ihnen Fragen stellte. Wenn ich sie nicht verstand, versuchten sie es mit anderen Bildern.
Mörder und Eindringlinge
Ich war Ende dreißig, als mein Vater schwer erkrankte. Mit einem Schlag wurden meine Träume so unerträglich, dass ich professionelle Hilfe brauchte. Dass es ihm bald wieder besser ging, schien die Träume nicht zu kümmern. Sie zeigten mir klar und deutlich, dass meine Belastungsgrenze überschritten war und ich es allein nicht schaffte. Aggressive Mörder drangen nahezu jede Nacht in mein Zimmer ein und bedrohten mich. Mein Traumzimmer hatte viele Türen, alle unverschlossen oder weit offen, obwohl ich verzweifelt hin und her raste, um sie zuzuhalten. Ich hatte zwar Schlüssel, fand aber nie die richtigen. Ich musste dringend lernen, mich zu schützen. Anders als früher konnte mir diesmal jemand helfen. Meine Therapeutin nahm meine Träume ernst und wählte einen zunächst schockierenden Ansatz: direkte Konfrontation. Ich musste mich den Angreifern nicht nur stellen, sondern mich sogar in sie hineinversetzen! Es fiel mir unglaublich schwer. Schließlich sah ich mich durch die Augen der Eindringlinge zitternd auf dem Bett sitzen und spürte ihre Aggression. Auf die Frage, warum sie mir ans Leben wollten, antworteten sie: „Weil du dich nicht wehrst!“ und „Du hast uns doch selbst gerufen!“ Sie hatten recht. Ich hatte meine „negativen“ Gefühle „abgeschnitten“, wurde fast nie ärgerlich oder sauer, sondern reagierte nur traurig oder verletzt. Jetzt drangen die verbannten „dunklen Seiten“ durch die ungesicherten Türen im mein Leben ein. Ich musste lernen, anders mit ihnen umzugehen. Gemeinsam mit der Therapeutin suchte ich nach neuen Strategien. Wir schrieben die Träume um, versuchten, meine belastende Lebenssituation zu verändern. Um auch äußerlich wehrhafter zu werden, besuchte ich einen Selbstverteidigungskurs. Ich war offenbar stärker, als ich dachte! Ich konnte ein Holzbrett mit bloßer Hand durchschlagen und richtig laut brüllen. All das nahm ich mit in meine Traumwelt und begann mich auch dort zu wehren. Die Eindringlinge waren beeindruckt, wurden kleiner und schwächer und ließen mich irgendwann in Ruhe. Danach kehrten sie zwar in Krisenzeiten zurück und zeigten mir, dass ich mal wieder zu viel Stress hatte, aber jetzt konnte ich wenigstens mit ihnen reden.
Traumtagebuch und Drehbuch-Skript
Heute bin ich eine leidenschaftliche Vielträumerin. Meine Träume sind bunt und schillernd, ich träume mit sämtlichen Sinnen und kann mich morgens gut erinnern. Die fragilen Traumgespinste sind für mich fast so wichtig wie reale Erinnerungen. Schade nur, dass sie so schnell verwehen. Man kann sie nicht festhalten und innerhalb von Stunden verändern sie sich völlig. Doch je mehr ich mich mit ihnen beschäftige, desto detaillierter werden sie, als wären sie dankbar für meine Aufmerksamkeit. Ich schreibe sie morgens auf oder erzähle sie meinem Mann, um sie nicht zu verlieren. Wenn ich spüre, dass sie mir etwas Wichtiges sagen wollen, versuche ich, sie umfassend zu deuten. Dies gilt vor allem für Alpträume. Es tut gut, sie genau anzusehen und nachträglich „zu entschärfen“. Notfalls greife ich mitten in der Nacht zum Handy und mache mir Notizen. Alpträume können bei mir übrigens auch durch Fernsehnachrichten oder Filme ausgelöst werden. Die Bilder von Katastrophen, Krieg und Terror brauchen lange, bis sie aus meinem Kopf verschwinden. Mich entspannt, wenn mein Mann mir vor dem Einschlafen vorliest oder wenn ich ruhige Musik höre.
Ich kann Alptraumgeplagten nur raten, ihre Träume festzuhalten. Weil Alpträume so intensiv sind, kann man sich noch ziemlich lange an sie erinnern. Meine Einträge sehen so aus: Datum und Ort, dann die Traumüberschrift, eine Inhaltsangabe und Angaben zu möglichen Auslösern aus dem Tageserleben. Direkt nach dem Aufwachen mache ich mir oft nur Notizen, die ich später ausarbeite. Besonders schön ist es, wenn man sich ein hübsches Buch nur für seine Träume zulegt. Hilfreich ist bei Nachtmahren auch, sie wie ein Drehbuch-Skript zu behandeln, das man im Wachzustand umschreiben kann. Wenn man sich die neue Szene oft genug ausmalt, hat man bald ein positives „Gegenbild“ zur Alptraumsituation. Ich habe damit nur gute Erfahrungen gemacht und meine Träume scheinen mein „Umdenken“ aufmerksam zu registrieren.
Luzides Träumen
Eine weitere gute Methode, mit Alpträumen umzugehen, ist „luzides Träumen“, weil man so bereits während des Träumens beängstigende Situationen verändern kann. Man weiß ja, dass man „nur“ träumt und somit in die Handlung eingreifen kann. Bedrohliche Gestalten sind „nur“ Traumgebilde, man kann sie verändern, zum Beispiel aus einem wütenden Angreifer einen freundlichen Spaziergänger oder aus einer dunklen Straße eine gut beleuchtete machen. Die Technik ist nicht ganz einfach, aber man kann sie erlernen. Manchen Menschen fällt es leicht, anderen eher nicht. Ich selbst schaffe es selten, eine Situation komplett zu ändern. Aber vielleicht möchte ich das auch gar nicht, denn ich mag unerwartete Wendungen. Meine Träume sind meist „halbluzide“. Ich weiß zwar, dass ich träume, und kann einiges ändern, doch meine Fantasie trickst mich regelmäßig mit ungeahnten Wendungen aus. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass meine Träume sich über mich lustig machen. Sie haben einen ausgesprochen skurrilen Sinn für Humor. So kann ich normalerweise fliegen und durch Wände gehen, doch wenn ich mich aus einer gefährlichen Situation entferne, kann es durchaus passieren, dass ich auf Traumwiderstand stoße. Nachdem ich zum Beispiel elegant durch die Zimmerdecke geschwebt bin, kommt direkt die nächste, diesmal noch dicker und mit Augen übersät, die mich tadelnd ansehen, und so geht es immer weiter, bis es mir zu viel wird. Dann gebe ich auf und erlaube dem Traum, ohne meine Regie „weiterzuspielen“. Selbst wenn es ein Alptraum ist. Irgendwas will er mir ja wahrscheinlich sagen. Außerdem ist es spannender, wenn ich nicht alles kontrolliere. Schließlich lese ich auch gern aufregende Geschichten.
Ich hoffe übrigens immer noch, dass mein größter Wunschtraum eines Tages wahr wird und mir meine Träume den absoluten Superplot schenken, der mich sozusagen über Nacht zur gefeierten Bestsellerautorin macht. Deshalb lasse ich bewusst auch meinen Alpträumen freie Hand. Denn es darf gern auch ein spannender Krimi sein.
Beate Felten-Leidel ist Schriftstellerin und literarische Übersetzerin. Sie wurde am Niederrhein geboren und lebt in Köln. felten-leidel.de, facebook.com/Feltenleidel