Das Sandmännchen bringt die Träume
ZULETZT Aktualisiert: 16. Oktober 2023
Das Sandmännchen streut allabendlich seinen Sand und bringt Millionen Kindern schöne Träume. Doch das war nicht immer so. Die Tradition des Sandmanns lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Im Laufe der Jahrhunderte durchlebte der Sandmann eine Wandlung, die vor sechzig Jahren in einem kleinen Männchen mit Zipfelmütze und Bart mündete. Ein kleiner Abendgruß zur Geschichte der antiken Traumgötter, über den Sandmann E.T.A. Hoffmanns als grausige Schreckgestalt bis hin zum kalten Krieg der Gute-Nacht-Geschichten für Kinder und der Spaltung des freundlichen Schlafbringers in ostdeutsches und westdeutsches Sandmännchen.
Vom Gott des Schlafes bis zum Sandmännchen
Bereits in der griechischen Mythologie ist die Rede von den Oneiroi, der Verkörperung des Träumens in Göttergestalt. Die Menschen glaubten damals, dass die Götter Phobetor, Phantasos und Morpheus für das Träumen verantwortlich waren und die Träume nutzten, um Botschaften zu überbringen. Diese Traumgötter sind eng mit Hypnos, dem Gott des Schlafes, verbunden. Mit Mohnzweig und Schlummerhorn brachte er Nacht für Nacht den Schlaf und ebenso die Träume. Hypnos und die Oneiroi stellen eine frühe Form des Sandmännchens dar.
Etwa zur selben Zeit glaubten die Germanen daran, dass der Schlaf und der Tod Geschwister seien. Verwunderlich ist das nicht, ähnelt sich doch beides, äußerlich betrachtet. Sowohl der Schlaf als auch der Tod wurden als Sandmann – im Sinne von Sendbote, einem göttlichen Gesandten – bezeichnet und liefern damit eine erste Wortherkunft.
Im heutigen Kärnten, Österreich, wird das Sandmännchen mit dem von den Kelten verehrten Genius cucullatus in Verbindung gebracht. Dieser Schutzgeist mit Kapuzenmantel stand für guten Schlaf und gesundes Augenlicht, konnte helfen und heilen, aber auch Unheil bringen. Der Name Sandmännchen leitete sich in diesem Zusammenhang aus der Ortschaft St. Georgen am Sandhof und der Gestalt des Kapuzenmännchens ab.
Sandmann E.T.A. Hoffmann – Schreckgestalt mit Sandsack
In der jüngeren Geschichte, beeinflusst von den Mythen und Legenden der Vorzeit, wandelte sich der Sandmann zu einer gruseligen Figur. Nachtbock, Nachtkrabb oder Bummelux sind nur einige der regional unterschiedlichen Bezeichnungen für ein und denselben Kinderschreck. Der Sandmann in E. T. A. Hoffmanns gleichnamigem Roman spiegelt die Vorstellung der bösartigen Gestalt dieser Zeit wider. E.T.A. Hoffmanns Sandmann ist ein Monster, das Kindern, die nicht schlafen wollen, Sand in die Augen wirft, in seinen Sack steckt und mitnimmt. Solche und andere Schauergeschichten erzählten Eltern ihren Kindern, damit sie abends bereitwillig zu Bett gingen.
Der Sandmann bringt die Kinder zu Bett
Die Sandmännchen-Figur „Ole Lukøje“ des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen kam ganz ohne Furcht zu verbreiten aus. In dem gleichnamigen Märchen verarbeitete Andersen die deutsche Tradition des Sandmanns als Kinderschreck. Doch anders als das deutsche Vorbild ist Andersens Sandmännchen eine kleine Gestalt mit Kapuze ohne jede Boshaftigkeit.
Ole Lukøje heißt übersetzt „Ole Augenschließer“. Er wirft keinen Sand, sondern gibt ein wenig Milch in die Augen der Kinder, damit sie müde werden und sich schlafen legen. Unter den Armen trägt das Männchen zwei Regenschirme. In einem der Schirme sind Bilder aufgehängt, die er den braven Kindern zeigt und die ihnen schöne Träume bescheren. Über den unartigen Kindern spannt er den anderen Schirm auf, der keine Bilder in sich trägt. Daraufhin träumen diese Kinder nicht.
Das Sandmännchen und der Abendgruß
Kindern vor dem Einschlafen Gutenachtgeschichten vorzulesen, hat eine lange Tradition. In den 1950er Jahren knüpfte der Hörfunk daran an und entwickelte eine entsprechende Radiosendung für Kinder. Das Fernsehen übernahm die Idee – der Abendgruß war geboren. Während im Hörfunk der Sandmann die Geschichten vortrug, fehlte in der Fernsehsendung noch das Sandmännchen.
Der Sandmann als Rahmen für die Gutenachtgeschichte
Der anfänglich ohne Sandmann ausgestrahlte Abendgruß wurde ein Jahr später um eine Rahmenhandlung ergänzt. Im Vorspann einer jeden Folge reist das Sandmännchen an einen anderen Ort und läutet den Abendgruß ein. Der Abendgruß selbst ist eine eigenständige Geschichte mit wechselnden Protagonisten. Die bekanntesten sind wohl Pittiplatsch und Schnatterinchen. Nach dem Abendgruß bringt der Sandmann die Kinder ins Bett, streut eine Handvoll Schlafsand und winkt zum Abschied. Dass der TV-Sandmann ein so freundliches Wesen besitzt, haben wir Hans Christian Andersen zu verdanken. Seine Märchenfigur „Ole Lukøje“ diente dem Puppenbauer Gerhard Behrend als Vorlage für das Sandmännchen im Ostfernsehen.
Westdeutsches Sandmännchen vs. ostdeutsches Sandmännchen
Die Idee zur Rahmenhandlung mit dem Sandmann geht auf Ilse Obrig zurück – dieselbe Rundfunkredakteurin, die die Radiosendung initiierte. Allerdings entwickelte sie das Konzept des Sandmännchens als Klammer für den Abendgruß erst einige Jahre nach ihrem Wechsel vom ostdeutschen zum westdeutschen Rundfunk im damals geteilten Deutschland. Die Verantwortlichen des DDR-Fernsehens erfuhren von dem Vorhaben und planten daraufhin ein eigenes Sandmännchen. Am Abend des 22. November 1959 strahlte das DDR-Fernsehen unter dem neuen Titel „Unser Sandmännchen“ zum ersten Mal den Abendgruß mit der kleinen Puppe aus. Neun Tage später flimmerte als Nachzügler „Das Sandmännchen“ über die Fernsehgeräte. Das Pendant, was nur wenige Tage später auf Sendung ging, wurde in der breiten Öffentlichkeit häufig mit Zusatz als westdeutsches Sandmännchen bezeichnet und damit vom Original abgegrenzt.
Für Jahrzehnte liefen beide Gute-Nacht-Sendungen parallel. Nach dem Tod des Puppenspielers Herbert K. Schulz 1986, der das westdeutsche Sandmännchen produzierte, stellte die ARD „Das Sandmännchen“ mehr und mehr in Frage. Am 31. März 1989 wurde schließlich der westdeutsche Schlaf- und Träumebringer in den Ruhestand geschickt.
In der Nacht vom 15. zum 16. September 1979 gelang auf spektakuläre Weise zwei ostdeutschen Familien mit einem Heißluftballon die Flucht in die BRD. Als wäre das nicht Schmach genug für die Parteifunktionäre der SED gewesen, mussten sie mit ansehen, wie zwei Tage später das Sandmännchen zum Abendgruß mit einem Heißluftballon angefahren kam. Das Verbot dieser Episode folgte prompt.
Die Verhinderung des Sandmännchen-Ruhestands
Die deutsche Wiedervereinigung war eine Zeit voller Umbrüche. Der Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR sah unter anderem die Auflösung des ostdeutschen Rundfunks vor, damit schien das Schicksal des ostdeutschen Sandmännchens besiegelt. Im Ostteil des Landes regte sich allerdings Widerstand. Im Herbst 1990 gingen die Menschen für ihr Sandmännchen auf die Straße. Es wurden tausende Unterschriften gesammelt und dem damaligen Rundfunkbeauftragten Rudolf Mühlfenzl, der mit der Abwicklung der Fernsehanstalt der DDR betraut war, übergeben. Mühlfenzl konnte die Protestwelle nicht verstehen, war doch bereits in ersten Konzepten der Programmumstrukturierung ein fester Platz für „Unser Sandmännchen“ vorgesehen. Die Entrüstung beruhte letztlich auf Falschinformationen und einer hochsensibilisierten Öffentlichkeit jener Zeit. Trotz dessen, dass das geliebte Männchen nie wirklich in Gefahr war, hatte der Protest die Bedeutung der kleinen Puppe mit Zipfelmütze klargestellt. Seitdem ist „Unser Sandmännchen“ aus der Kinderfernsehlandschaft nicht mehr wegzudenken.
Das Sandmännchen feiert 60. Geburtstag
Kurz nach dem Beginn des Fernsehrundfunks in den 1950er Jahren startete die Karriere des Sandmanns. Am 22. November 1959 brachte „Unser Sandmännchen“ zum ersten Mal den Abendgruß. Noch heute ist der TV-Star ein fester Bestandteil des Abendrituals vieler Kinder. Als dienstältester Akteur im deutschen Fernsehen erreicht das kleine Männchen mit Zipfelmütze über alle Generationen einen Bekanntheitsgrad von annähernd 100 %.
Zum 50. Geburtstag gab es ein großes Kinderfest im Filmpark Babelsberg, der Produktionsstätte der Kindersendung, ein Sandmann Musical und den Kinofilm „Das Sandmännchen – Abenteuer im Traumland“. Im November 2019 feierte der Sandmann seinen 60. Geburtstag. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg läutete das Jubiläum mit der Ankündigung ein, dass der Sandmann zum Sechzigsten seinen Bart verlieren würde. Kleine wie große Zuschauer waren erleichtert, nachdem sich das Ganze als April-Scherz herausstellte. Im Juni folgte ein Denkmal mit Bart: In der Masurenallee vor dem Gebäude des Rundfunks Berlin-Brandenburg sitzt das Sandmännchen auf einer Parkbank und freut sich auf ein Selfie mit Besuchern. Neben dem obligatorischen Fest zum runden Jahrestag des Sandmanns im Filmpark Babelsberg widmet das Filmmuseum Potsdam dem Sandmännchen eine eigene Ausstellung.
Wann und wo kommt das Sandmännchen?
Das Sandmännchen kommt täglich in den Abendstunden zwischen 17:50 und 18:54 Uhr. Die Sendung mit dem Sandmann dauert nur zehn Minuten, wird aber auf verschiedenen Sendern des öffentlich rechtlichen Rundfunks versetzt ausgestrahlt, sodass unterschiedliche Altersgruppen problemlos zuschauen können.
Welches Sandmännchen war zuerst da?
Der ostdeutsche Sandmann ging neun Tage bevor das westdeutsche Sandmännchen realisiert werden konnte auf Sendung. Das Wetteifern um die Integration des Sandmannes in den bereits laufenden Abendgruß für Kinder gleicht ein wenig dem zur Zeit des kalten Krieges allgegenwärtigen Wettstreit der politischen Systeme. Am Ende überdauerte das neun Tage ältere Original das sogenannte West-Sandmännchen um Jahrzehnte.
Was kommt beim Sandmännchen?
Der Sandmann, der den Kindern am Ende des Tages den Schlafsand für gute Träume in die Augen streut, bildet lediglich die Rahmenhandlung der gleichnamigen Sendung. Dazwischen werden eine Gute-Nacht-Geschichte, Märchen oder Lieder gezeigt. Einige Figuren sind seit den frühen 1960er-Jahren immer wieder zu sehen, die berühmtesten darunter haben es zum Kultstatus gebracht: Pittiplatsch, Schnatterinchen, Moppi, Plumps, Herr Fuchs und Frau Elster.