Pioniere der Schlafforschung – der Weg zur Schlafmedizin
ZULETZT Aktualisiert: 25. April 2023
Schichtarbeit, Wecker und 14-Stunden-Arbeitstage waren Entwicklungen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Die stetige Optimierung der Arbeitswelt wirkte sich nachteilig auf die Menschen aus. Stressbedingte Erkrankungen, darunter Schlaf-wach-Störungen, nahmen stark zu. Obwohl sich schon Aristoteles in der Antike oder Hildegard von Bingen im Mittelalter mit dem Phänomen Schlaf auseinandersetzten, fehlte den Medizinern das Fachwissen, um die Ursachen der Schlafstörungen zu erkennen und geeignete Behandlungen durchzuführen.
Heute gibt es zahlreiche Schlaflabore und über 80 verschiedene international klassifizierte Schlaf-wach-Störungen. Doch nach wie vor bleiben in der Schlafmedizin viele Fragen unbeantwortet. Das hat einen einfachen Grund: Die Wissenschaft beschäftigte sich lange Zeit fast ausschließlich mit dem Leben am Tage. Es wurde angenommen, dass der Körper sich nachts abschaltet und in einen Ruhezustand übergeht, der nicht für sonderlich erforschenswert gehalten wurde. Dass nachts komplexe physiologische Vorgänge ablaufen, konnte sich vor rund 100 Jahren kaum jemand vorstellen.
Schlaf – kein homogener Prozess
Der Mediziner Ernst Kohlschütter erkannte Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner Weckreizmethode, dass Schlaf kein gleichmäßiger Prozess ist. In seinen Experimenten weckte er die Probanden mit einem lauter werdenden akustischen Signal und zeichnete die Signalstärke in Abhängigkeit zur Schlafdauer auf. Seine so ermittelte Schlaftiefenkurve wies eine variierende Schlaftiefe über die gesamte Schlafdauer auf. Der Moment des tiefsten Schlafes wurde kurz nach dem Einschlafen erreicht. Kohlschütter widerlegte damit die bisherigen Annahmen und begründete die heutige Schlafforschung.
Kopfbohrungen im Dienste der Wissenschaft
Die Entwicklung der Elektroenzephalografie (EEG) war 1924 ein Meilenstein für die Erforschung des Schlafs. Man erlangte Einblicke in die Gehirnaktivitäten und die Entzauberung des Schlafes konnte nun auf einer ganz anderen wissenschaftlichen Basis voranschreiten. Damals mussten die Elektroden allerdings noch sehr nah oder gar direkt an der Hirnrinde angebracht werden, um verlässliche Werte zu erhalten. 1933 ließ sich Ingenieur J. F. Tönnies von seinem Kollegen und Physiologen Alois Kornmüller (1905–1968) in einem Selbstversuch ein Loch in den Kopf bohren, um seine Gehirnströme zu messen und um verbesserte Messmethoden zu entwickeln. In der Regel wurden für die Experimente aber Hunde, Katzen und Psychiatrie-Patienten eingesetzt.
Experimente in der Mammut-Höhle
Nathaniel Kleitman (1895–1999) von der Universität Chicago gilt als Begründer der Schlafforschung in den USA. Bekannt für seine abenteuerlichen Experimente, verbrachte er 1938 zusammen mit seinem Mitarbeiter Bruce Richardson einen Monat lang in einer Höhle. Aber nicht in irgendeiner: Die Mammut-Höhle in Kentucky ist mit über 600 km kartierter Ausdehnung die weitläufigste bekannte Höhle der Welt. Mehrere Flüsse fließen unterirdisch durch das verwinkelte Höhlensystem. Die Kammer, in der Kleitman während des Experiments lebte, befand sich 40 Meter unter dem Erdboden, war komplett von Tageslicht, Geräuschen und Wettereinflüssen abgeschottet, die Temperatur betrug das ganze Jahr über konstante 12 °C. Der damals 43-Jährige wollte mehr über die innere Uhr herausfinden. Würde sich der Mensch ohne äußere Einflüsse auf einen anderen Schlaf-wach-Rhythmus einstellen können oder ist der 24-Stunden-Tag im Körper einprogrammiert?
Die beiden Forscher teilten jeden Tag gleich ein: Zehn Stunden Arbeit, neun Stunden Freizeit, neun Stunden Schlaf. Durch die ständige Messung der Körpertemperatur, die normalerweise während der Schlafphase sinkt, wollten sie herausfinden, ob sich der Körper auf einen anderen Rhythmus einstellt. Während sich Richardsons Organismus auf den vorgesehenen 28-Stunden-Rhythmus umstellte, wurde Kleitman weiterhin zur Abendzeit müde und etwa acht Stunden später fühlte er sich wach – auch wenn er in der Zwischenzeit gar nicht schlief. Das Ergebnis war also uneindeutig. Kleitman soll zu seinem Experiment später gesagt haben: „Ich habe herausgefunden, dass mir ein anständiger Vollbart wächst.“
Entstehung der modernen Schlafmedizin
Erst 1953 entdeckte Eugene Aserinsky (1921–1998), Doktorand bei Nathaniel Kleitman, den REM-Schlaf, also die Schlafphase, in der wir träumen und starke Augenbewegungen auftreten (REM = Rapid Eye Movement). Diese Entdeckung gilt als Geburtsstunde der modernen Schlafmedizin. In den folgenden Jahrzehnten entstanden Schlafinstitute mit Schlaflaboren, Schlafstörungen wurden klassifiziert und endlich als Erkrankungen verstanden. 2017 erhielten drei US-amerikanische Forscher den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für die Erforschung der inneren Uhr auf molekularer Ebene. Die Auszeichnung kann stellvertretend für die Ehrung eines ganzen Wissenschaftsfeldes und jahrzehntelanger Forschungsbemühungen gesehen werden.