Schlafwandeln – halb wach durch die Nacht
ZULETZT Aktualisiert: 04. Oktober 2023
Als Schlafwandeln wird das wiederholte Auftreten komplexer Verhaltensweisen während des Schlafens bezeichnet. Dazu kann das Umherwandern einer schlafenden Person zählen, muss es aber nicht. Einige Schlafwandler verlassen entgegen der allgemeinen Vorstellung nicht einmal das Bett.
Insgesamt tritt das in der Medizin Somnambulismus oder Somnambulie genannte Phänomen eher selten auf. Nur etwa ein bis zwei Prozent aller Erwachsenen sollen davon betroffen sein. Unter Kindern ist Schlafwandeln dagegen viel verbreiteter: Etwa 15 bis 30 Prozent schlafwandeln laut der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) zumindest phasenweise. Drei bis vier Prozent aller Kinder, so wird angenommen, sind regelmäßig vom Schlafwandeln betroffen.
Weil Schlafwandeln vor der Pubertät häufiger vorkommt, vermuten Experten einen Zusammenhang zu dem unausgereiften zentralen Nervensystem von Kindern. Vermutlich ist der für die Motorik zuständige Teil des Gehirns wach, während der für das Bewusstsein zuständige Teil schläft. Dies würde erklären, warum die menschliche Motorik nachts komplizierte Bewegungen ausführen kann, während das Bewusstsein davon nichts mitbekommt. Denn was einige Betroffene im Schlaf vollbringen, ist faszinierend.
Autofahren – mit schlafwandlerischer Sicherheit?
Bei uns gibt es die Redewendung, dass jemand etwas mit schlafwandlerischer Sicherheit macht. In Anbetracht dessen, was Schlafwandler vollbringen können, klingt das nicht allzu weit hergeholt. Immerhin gibt es etliche Berichte von somnambulen Personen, die während einer Episode anfangen zu Kochen oder Auto zu fahren. Die betroffenen Personen bewegen sich dabei alles andere als sicher. Die Redewendung hat mit der Realität also nichts zu tun. Ganz im Gegenteil, Verletzungen sind bei vielen Schlafwandlern an der Tagesordnung.
Steigt ein Betroffener schlafwandelnd ins Auto, bringt er nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr. Zwar sind Fälle bekannt, bei denen die schlafwandelnde Person erst am leeren Tank bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmt. Dabei dürfte allerdings viel Glück im Spiel gewesen sein. Die Augen von Schlafwandlern sind zwar offen, können die Umwelt aber nur sehr eingeschränkt wahrnehmen. Ein Patient des deutschen Schlafforschers Dr. Hans-Günter Weeß verwechselte zum Beispiel die Nachttischschublade seiner Frau mit der Toilette.
Alkoholkonsum und Schlafmittel fördern Schlafwandeln
Besagter Patient schlafwandelte immer dienstags, donnerstags und sonntags. Diese Regelmäßigkeit ließ den Schlafforscher hellhörig werden. Später kam heraus, dass der Patient an diesen Tagen Fußball-Training hatte und danach mit seinen Mannschaftskameraden Bier trank. In diesem Fall war es tatsächlich der Alkohol, der die schlafwandlerischen Episoden des Mannes verursachte.
Auch bestimmte Schlafmittel stehen im Verdacht, Schlafwandeln zu fördern. Grundsätzlich lässt sich sagen: Alles, was den Tiefschlaf beeinflusst, kann das Schlafwandeln bei betroffenen Personen begünstigen. Dazu zählen auch andere beruhigende Medikamente oder Fieber. Eine durchgemachte Nacht kann ebenfalls die Tiefschlafphase verlängern.
Weckreize triggern das Schlafwandeln
Entgegen einiger Annahmen dürften Betroffene nicht durch ihre Träume zum Schlafwandeln veranlasst werden. Zwar können Schlafwandler vereinzelt von kurzen, traumartigen Erinnerungsfetzen berichten, die meisten sind aber erinnerungslos.
Als wahrscheinlicher gilt, dass bestimmte Weckreize das Schlafwandeln auslösen. Ist die Nacht lang genug, durchläuft jeder Mensch vier bis fünf Schlafzyklen, die aus mehreren Schlafphasen bestehen. Zudem wacht jeder Mensch nachts mehrfach auf, aber nur die wenigsten bemerken das. Wer vom Schlafwandeln nicht betroffen ist, dreht sich um oder deckt sich wieder zu und schläft weiter. Schlafwandler scheinen sich in einem ähnlichen Zustand zu befinden, schlafen aber nicht mehr ein. Es wird angenommen, dass die Personen durch bestimmte Weckreize halb aufgeweckt werden, aber nicht vollständig erwachen. Einige Schlafforscher sprechen deshalb von einer Aufwachstörung und nicht von einer Schlafstörung.
Zu den häufigsten Weckreizen zählen laute Geräusche, eine volle Blase oder einfach nur Licht. Licht hat auf Schlafwandler eine ganz besondere Anziehungskraft, denn viele Betroffene werden während ihrer Episode geradezu magisch von Lichtquellen angezogen. Weil früher der Mond das mit Abstand hellste Licht war, nannte man das Schlafwandeln auch Mondsucht.
Auch der Pavor nocturnus genannte Nachtschreck soll das Schlafwandeln triggern. Beim Pavor nocturnus wacht der Betroffene mitten in der Nacht schreckhaft auf und kann sich in diesem Moment ausschnittweise an einen meist schlechten Traum erinnern. Am darauffolgenden Tag fehlt ihm jegliche Erinnerung an das Geschehen. Besonders verbreitet ist dieses Phänomen bei Kindern, bei Erwachsenen kommt es eher selten vor.
Schlafwandeln liegt in der Familie
Die Wissenschaft hat relativ genaue Vorstellungen davon, was das Schlafwandeln begünstigt oder auslöst. Warum gewisse Menschen überhaupt Schlafwandeln und andere nie, ist nicht geklärt. Klar ist, bestimmte Personen haben eine Veranlagung zum Schlafwandeln. Wer keine Veranlagung hat, wird auch nicht durch Weckreize oder begünstigende Umstände zum Schlafwandeln veranlasst.
Als sehr wahrscheinlich gilt, dass die Genetik eine große Rolle spielt. Denn laut DGSM haben rund 80 Prozent aller Schlafwandler eine Person in der Familie, die ebenfalls schlafwandelt. Sind beide Elternteile somnambul, besteht eine sechzigprozentige Wahrscheinlichkeit, selbst schlafzuwandeln.
Wie mit Schlafwandlern umgehen
Die Episode eines Schlafwandlers beginnt normalerweise im ersten Drittel der Nacht und dauert selten länger als 30 Minuten, in Ausnahmefällen auch eine Stunde. Was währenddessen passiert, ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Für einige ist es deshalb erforderlich, Sicherheitsmaßnahmen vor dem Schlafengehen zu treffen.
In Kinderzimmern wird beispielsweise der Fußboden von Spielsachen befreit, um das Verletzungsrisiko zu minimieren. Neigt die schlafwandelnde Person dazu, Fenster und Türen zu öffnen, müssen diese abgeschlossen werden. In extremen Fällen kann es sogar vorkommen, dass der Schlafwandler an das Bett gebunden wird. Versucht er dann das Bett zu verlassen, ist die Chance relativ hoch, dass er dabei aufwacht oder nicht in der Lage sein wird, sich selbst zu lösen.
Bei der Begegnung mit einem Schlafwandler bekommen es viele mit der Angst zu tun. Denn die Person wirkt meist apathisch, spricht mit sich selbst oder imaginären Personen und hat dabei die Augen geöffnet, schaut einem dabei aber nie direkt in die Augen. Angst ist dennoch fehl am Platz, denn nur in äußerst seltenen Fällen werden Schlafwandler aggressiv.
Es ist möglich, mit Schlafwandlern zu reden, wenngleich man sich auf ein sehr einfaches Vokabular beschränken sollte. Am besten ist es, man redet mit ruhiger Stimme auf die schlafwandelnde Person ein und bringt sie zurück ins Bett. Aufwecken würde nur zu großer Verwirrung führen.
Die vielen Gesichter des Schlafwandelns
Der Somnambulismus kann sehr unterschiedliche Ausmaße annehmen. Es gibt Formen, die kaum zu bemerken sind, und es gibt Extreme, bei denen Schlafwandler zu aggressiven Handlungen fähig sind. Zunächst einmal wäre da die mildeste Form des Schlafwandelns, die nur mit einem EKG oder EEG nachzuweisen ist. Die Betroffenen zeigen unter Umständen kaum Symptome, ein Teil des Gehirns scheint aber nachts zeitweise wach zu sein.
Bei der stärker ausgeprägten Form verlassen die Schlafwandler zwar nicht das Bett, richten sich aber auf und sprechen oder gestikulieren. Viele nesteln an der Bettdecke oder ziehen diese zurecht, viel mehr passiert aber nicht.
Steht der Betroffene auf, verlässt das Bett und läuft umher, ist die nächsthöhere Stufe des Schlafwandelns erreicht. In diesem Stadium kann es gefährlich werden, vor allem für den Schlafwandler selbst.
In extremen Fällen können somnambule Menschen aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen zeigen. Das fängt vergleichsweise harmlos an, mit leichten Tritten und Schlägen für alle, die sich den Schlafwandlern in den Weg stellen. Darüber hinaus existiert die Hypothese, dass Schlafwandler zu weitaus aggressiveren Handlungen fähig sind, bis hin zum Mord. Diese Annahme ist zwar umstritten, wurde in Kanada aber schon einmal als Grund für einen Freispruch verwendet.
Der damals 23-jährige Student Kenneth Parks soll am 24. Mai 1987 gegen 3.30 Uhr am Morgen schlafwandelnd das Haus verlassen haben. Mit seinem Auto fuhr er, den Berichten zufolge, 23 Kilometer weit zum Haus seiner Schwiegereltern. Daraufhin soll er mit einem Brecheisen bewaffnet das Haus betreten und seinen Schwiegervater angegriffen haben. Der Schwiegervater wurde verletzt, kam aber mit dem Leben davon. Der fliehenden Schwiegermutter soll Parks gefolgt sein und sie mit einem Küchenmesser erstochen haben. Seinen Berichten zufolge ist er erst aufgewacht, als er wieder im Auto saß. Daraufhin ging er zur Polizei und soll sich in einem sichtlich verwirrten Zustand gestellt haben. Er gab zu verstehen, dass er wahrscheinlich jemanden umgebracht hätte.
Obwohl er eindeutig als Täter identifiziert wurde, konnte er aufgrund eines Gutachtens später freigesprochen werden. Parks wurde in einem Schlaflabor analysiert, wo man zu dem Ergebnis kam, dass er zum Tatzeitpunkt schlafwandelte und deshalb unzurechnungsfähig gewesen ist. Der Fall Kenneth Parks ist ein Extremfall, aber kein Einzelfall. Rund 70 Morde sollen weltweit im Schlaf begangen worden sein.
Verwechslungsgefahr mit REM-Schlaf-Verhaltensstörung
In vielen Fällen von aggressivem Verhalten bei Schlafenden wird der Somnambulismus mit der REM-Schlaf-Verhaltensstörung verwechselt. Dabei handelt es sich um eine eigene Form von Schlafstörung. Sie tritt überwiegend bei Männern über 60 Jahren auf und, so wird angenommen, kann ein Vorbote für eine Parkinson-Erkrankung oder eine Lewy-Körperchen-Demenz sein.
Bei der kurz RBD (Rapid-eye-movement sleep behaviour disorder) genannten Erkrankung setzt die motorische Hemmung während der REM-Schlafphase aus. Das hat zur Folge, dass die Betroffenen ihre oft intensiven Träume mit Händen und Füßen ausleben. Auch das kann unter Umständen gefährlich werden. Bei Verdachtsfällen sollte umgehend ein Arzt aufgesucht werden, da RBD häufig mit Folgeerkrankungen einhergeht. Mit bestimmten Schlafmitteln lassen sich die Symptome von RBD in den Griff bekommen.
Behandlungsmethoden beim Schlafwandeln
Es gibt Möglichkeiten, Schlafwandler medikamentös zu behandeln. Benzodiazepine, in Deutschland verschreibungspflichtige Schlaf- und Beruhigungsmittel, können zum Beispiel kurzfristig helfen. Sie schränken die Häufigkeit und Intensität der nächtlichen Episoden ein. Länger als zwei Wochen dürfen sie nicht eingesetzt werden, da sonst die Gefahr einer Abhängigkeit besteht. Trizyklische Antidepressiva (Imipramin oder Trimipramin) sind dagegen für eine langfristige medikamentöse Behandlung geeignet. Doch selbst wenn sie bereits bei Patienten eingesetzt wurden, ist ihre Wirksamkeit bei der Somnambulie nicht wissenschaftlich belegt. In jedem Fall ist eine medikamentöse Behandlung mit einem Arzt abzusprechen.
Auch ohne Medikamente können sich Betroffene mit gewissen Präventivmaßnahmen selbst helfen. Dazu gehört beispielsweise die Einhaltung eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus und das Vermeiden von Schlafmangel. Durch einen kurzen Powernap am Tag kann zusätzlich dem Schlafdruck entgegengewirkt werden. Solche Maßnahmen wirken – wie der Verzicht auf Alkohol – einer zu intensiven Tiefschlafphase entgegen, die als Auslöser des Schlafwandelns gilt.
Ebenso gibt es Versuche, die Somnambulie mit autosuggestiven Übungen zu kontrollieren. Dazu sagt die betroffene Person in einem entspannten Zustand wiederholt den Satz: „Wenn meine Füße den Boden berühren, wache ich vollständig auf“ – beziehungsweise „… gehe ich sofort zurück ins Bett.“
Weil viele Betroffene davon berichten, dass sie in stressigen Lebensphasen zum Schlafwandeln neigen, kann auch eine Psychotherapie oder eine kognitive Verhaltenstherapie Abhilfe schaffen.
Doch ganz gleich, wie sehr man sich bemüht, eine vollständige Heilung ist nach jetzigem Stand der Wissenschaft mit keiner Therapiemaßnahme und keinem Medikament möglich.